Die Tür stand, wie immer, angelehnt. Das fahle Licht, das sich durch die grauen Vorhänge ins Zimmer schlich, vermochte nicht alle Winkel zu erreichen. Ihr Zimmer lag im Nordflügel und nur abends schaute die Sonne darin vorbei und machte es freundlicher. Sie traute sich lange nicht rein zu gehen. Es war ihr unheimlich.
Im Besprechungszimmer kursierten Geschichten über diese Bewohnerin. Gemischte Theorien über ihr Leben vor dem Unfall. In der Langweile des Alltags wurden sie von dem Pflegepersonal geschürt, wie Feuer im Kamin eines scheinbar endlosen Winterabends. Viel Geld soll sie haben und einflussreich soll sie gewesen sein.
Ihre Pflege war aufwendig. Alles musste man machen… alles. Nicht einmal essen konnte sie mehr selbst. Ein langer Schlauch versorgte jetzt ihren Körper mit dem Notwendigsten. „Wenigstens kann sie nicht mehr zunehmen“, stellte die junge Pflegerin einmal unbedacht fest und schämte sich sofort für diesen Gedanken.
Die langen Haare mussten sie ihr dann auch abschneiden. Zu aufwendig war es, sich ihnen zu widmen. Obwohl sie sich selbst nicht einen Millimeter bewegen konnte, bekam man die Lockenfülle nicht frei von Knoten. Bestürzt hörte sie zu, wie die Schwestern darüber lästerten.
Es war nicht schwer für die Kolleginnen es abzuschneiden. Für sie war es schrecklich. Die goldene Pracht umrandete so schön das zarte Gesicht. Wie schön musste es gewesen sein, wenn es im Wind Wellen geschlagen hatte. Verführerisch wie die Venus in der Muschel von Sandro Boticelli, so stellte sie es sich dann innerlich vor. Sie wunderte sich nicht, dass die bewegungslose Frau wütend zu sein schien, als sie es ihr antaten.
Einige Tage danach, als die Abendsonne die Schatten der Bäume in die Länge zupfte, ging sie hinein… in ihr Zimmer. „Es tut mir leid…“, sagte sie flüsternd an der Türe stehend. Sie wusste nicht, ob das regungslose Gebilde im Halbdunkel wach war. Vom Weiten konnte sie nur erahnen, dass die Augenlider aufflatterten, als sie die Worte aussprach. Da schlich sie leise näher heran. „Es tut mir so leid, dass wir ihr Haar abgeschnitten haben“, sprach sie mit Bitterkeit in der Stimme weiter. Wieder blinzelten die Augen. Sie redete sich ein, dass die Frau sie deutlicher sehen will und beugte sich dicht über das blasse Gesicht.
Diese blauen Augen, wie der Himmel am Morgen, wenn die Welt noch so frisch ist wie ein Tautropfen. Ihr Gesicht war vollkommen und wirkte so jung. Dabei sollte sie schon über Vierzig sein. Eine, offensichtlich gemachte, zarte Nase ließ darauf schließen, dass sie sich sehr um ihr Aussehen gesorgt haben muss. Früher.
Die junge Frau schluckte schwer, als sie die Erkenntnis einholte, dass diese vollendet geschwungenen Lippen nie mehr mit Falten umrandet sein werden. Kein Lächeln wird sie je verzieren. Kein Wort wird sie je mehr verlassen. Die Frau war gefangen in diesem Körper mit der Figur, um die sie jeder heimlich beneidete.
Die liegende Frau schaute die über ihr gebeugte Gestalt an. Das war alles was sie noch tun konnte. Ihr Blick war brennend. „Es tut mir leid, um ihr Haar.“, wiederholte sich die heimliche Besucherin erstickt von diesem Anblick. Während die Frau langsam ihre Augen weg Richtung Fenster drehte rollte eine Träne über ihre perfekte Wange.
Die Besucherin ging hinaus und fühlte sich elender als zuvor. Eine Schwester stand vor der Tür. Sie hat die Szene beobachtet. „Was fehlt ihr, denn?“, fragte die junge Pflegerin ihre Kollegin und schaute sie hilfesuchend an. Diese starrte nachdenklich in den Türspalt und antwortete gedankenverloren: „Gesundheit…“